Demut und Dankbarkeit
Ich bin jetzt 30 Jahre alt und stand noch nie in meinem Leben vor leeren Regalen im Supermarkt. Ich habe mich noch nie gefragt, ob ich nächste Woche noch genug Lebensmittel einkaufen kann, um mich zu ernähren. Noch nie stellte ich mir die Frage, ob ich meine Eltern in der nächsten Woche noch besuchen kann, nur weil sie in einem anderen Bundesland wohnen. Finanzielle Sorgen kenne ich – ja, aber existenzbedrohliche Sorgen hatte ich nie. Polizisten und Menschen die mit Mundschutz durch die Hauptstadt ziehen, kenne ich nur aus monumentalen Netflix-Filmen. Eine laute quirlige Stadt, die plötzlich leise wird und leer wirkt, war immer nur ein spannender Thrill zur Abendunterhaltung.
Ich bin 1990 geboren und gehöre damit zur sog. Generation Y. Eine Generation, die sich jedenfalls in Deutschland, nie wirklich fragen musste ob etwas möglich ist. Sie musste sich stets nur fragen, für welche der unendlich vielen Möglichkeiten sie sich entscheidet.
Welche von den 20 verschiedenen Zahnpastasorten sie auswählt, damit die Zähne strahlend weiß wirken. Oder welche der 30 verschiedenen Bio-Vegan-Dinkel-Nudelsorten wohl die gesündeste Variante ist. In welches Land dieser Welt sie dieses Jahr verreisen will. Und ob die Internetverbindung in der Wohnung auch ausreichend stark ist für Netflix & Co. Will ich lieber 3 oder 5 Tage die Woche arbeiten gehen.
Wenn ich etwas esse, war seit meiner Jugendzeit immer der Gedanke im Hinterkopf, iss‘ nicht zu viel, damit du schlank bleibst. Meine Großeltern hingegen sind damit aufgewachsen, iss‘ deinen Teller auf, weil du nicht weißt, ob es morgen noch etwas gibt.
Und selbst heute, in diesen Zeiten der sogenannten Corona-Krise, stehe ich in Berlin vor den Supermarktregalen und kann vielleicht kurzzeitig nicht meine Lieblingspasta einkaufen, der gute Biomozarella ist aus und anstatt 100 verpackten Käsesorten gib es nur noch 20.
Philipp Poisel, ein für mich großartiger Musiker unserer Generation hat schon vor 10 Jahren ein Lied geschrieben, das es auf den Punkt bringt:
„Du bist doch noch so jung
Das ist was die Leute sagen
Doch wenn ich heute gehen müsste
Könnte ich mich wirklich nicht beklagen
Was ich alles schon erleben durfte
Wenn ich an all die Menschen denk
Die so viel früh ihr Leben ließen
Dann ist meines ein Geschenk
Ich hab‘ furchtbar Angst vor’m Tod
Ich hoff ich bin dort nicht allein
Auch wenn das Leben manchmal traurig ist
Bin ich froh, froh dabei zu sein“
Wenn man dieser Tage in Berlin um den Plötzensee spaziert (mit ausreichendem Sicherheitsabstand natürlich), dann ist die Welt so schön, friedlich und der Blumenstrauß an digitalen beruflichen Möglichkeiten unendlich. Strahlend blauer Himmel. Die Sonne schien seit Monaten nicht mehr so hell. Mit dem ersten kleinen Sonnenbrand auf dem Gesicht gehe ich nach Hause und schaue den ganzen Abend Netflix-Filme, weil keine Bars und keine Restaurants mehr geöffnet haben in Berlin.
Bei aller Ernsthaftigkeit um das Coronavirus und die Folgen für die betroffenen Menschen, muss ich bisher doch zugeben, es ist eine recht komfortable Krise für unsere Generation.
Es ist nicht so, dass wir nicht auch Krisen kennen würden. Der 11. September 2001. Die Finanzkrise. Die Flüchtlingskrise. Terroranschläge in Europa. Aber es sind alles Ereignisse, die mich nie persönlich erreicht haben. Ich kenne Sie aus dem Fernsehen, aus den Medien, aber ich musste mich nie irgendwo verstecken, hungern, gar flüchten oder hätte zumindest nennenswertes Aktienvermögen verloren. Nichts dergleichen.
Als meine Eltern in etwa in meinem heutigen Alter waren, standen sie urplötzlich vor einem neuen Wirtschaftssystem: Von der Planwirtschaft in den Kapitalismus. Sie hatten um ihre Jobs zu kämpfen und sich in einer neuen Staats- und Wirtschaftsordnung zurecht zu finden. Ihnen wurde 30 Jahre lang sehr viel vorenthalten und zwar nicht nur verschiedene Nudel- und Mozarellasorten oder Bananen. Dieser Generation wurden grundlegende Menschenrechte vorenthalten. Mir hingegen nicht.
Meine Generation hat so viele Möglichkeiten, dass wir Kalender darüber führen müssen, um uns auf unsere individuellen Ziele zu fokussieren. Wir sind deshalb nicht glücklicher als unsere Eltern oder noch die Kriegsgeneration. Wir sind ja schließlich auch nicht glücklicher, obwohl wir seit Jahrzehnten wissen, dass auf anderen Teilen der Erde viele Menschen einen Hungertod sterben.
Diese Corona-Krise, die mit diesem Beitrag keinesfalls unterschätzt oder kleingeredet werden soll, gibt mir und meiner Generation aber eine Perspektive, die uns vielleicht auch einmal ganz gut tut:
Sie gibt uns Demut vor dieser Welt, die uns bisher nichts vorenthalten hat.
Sie nötigt mir große Dankbarkeit in diesen Tagen ab, weil ich nichts dergleichen bisher erleben musste, was Generationen vor uns und Menschen auf anderen Teilen der Erde erleben mussten und nach wie vor müssen. Und wenn sie vorbei ist, weil jede Krise irgendwann vorbei geht, soll sie mich daran erinnern demütig und dankbar zu bleiben.
Die Zeit des verordneten Social Distancing sollten wir aber auch sinnvoll dafür nutzen, dass wir die aktuellen Entwicklungen sorgfältig für uns persönlich analysieren:
- Habe ich als Unternehmen genug Rücklagen für solch eine Krise gebildet?
- Habe ich verschiedene Einkommensquellen, sodass es zu verschmerzen ist, wenn ein oder zwei Bereiche wegbrechen?
- Wie gehe ich mit meiner Altersvorsorgeplanung um, wenn die Aktienkurse dramatisch sinken und es zu einem Börsencrash kommt?
- Wie wirkt sich solch eine Ausnahmesituation, auf mich selbst aber auch auf mein Umfeld aus, welche Schlüsse kann ich daraus ziehen?
Diese, für meine Generation bisher eher komfortable Krise sollte uns deshalb auch dankbar machen. Wir haben jetzt die Chance, wo viele noch am Anfang ihres Vermögensaufbaus und ihrer beruflichen Entwicklung stehen, Fehler zu erkennen und daraus zu lernen.
Viele Freiberufler und Gründer, die sich erst vor wenigen Jahren selbstständig gemacht haben, sind erstmals mit einer politischen und wirtschaftlichen Ausnahmesituation konfrontiert, die wir als Generation Y noch nie erfahren mussten. Deshalb: Macht Eure Hausaufgaben und bereitet Euch auf die Zeit nach der Krise vor, aber mit Demut und Dankbarkeit für die Zeit, in der wir aufwachsen durften.
Wer ist eigentlich diese Generation Y und was macht sie aus? Hiervon singe und erzähle ich in meinem Lied Die Generation Y.